Paul & Die Wurst

Gestern habe ich Paul kennengelernt.

Paul begleitete seine Mutter beim Einkauf in der örtlichen Metzgerei.

Während die Mutter ihre Bestellung tätigte, stand der Kleine vor der großen Glasvitrine.

Staunen auf Augenhöhe

Stumm betrachtete Paul staunend-konzentriert das Wurstangebot auf Augenhöhe. Zum Abschluss des Einkaufs kam die Frage aller Fragen an den Nachwuchskonsumenten:

„Möchtest Du noch eine Scheibe Gelbwurst oder ein Wienerle?“

Paul schaute die Metzgereifachverkäuferin an, legte den Finger nachdenklich an seinen Mund und brummte leise: „Mmh?“.

Fachliche Expertise

Umgehend wurde er von drei hochmotivierten Kunden beraten. Jeder teilte ihm mit was er nehmen solle – parallel und lautstark. Armer Paul! Paul fing an zu lachen, die Mutter entschied und reichte ihm eine Scheibe Gelbwurst. Paul schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken, die Wurst aufs Gesicht und lief einfach los. Die Mutter hastig hinterher, damit das Kind nicht gegen die Scheibe rennt. Keine Verabschiedung, kein Danke, ging ja nicht, da die Wurst auf dem Gesicht lag… Die Menschen im Laden verstummten und schauten betreten auf das unartige Kind. Arme Mutter! Ach ja, Kindererziehung ist nicht leicht.

Saitenwürschtle

Kurzerhand hat es mich gedanklich fünf Jahrzehnte in die Vergangenheit gebeamt.
An der Hand von Mutter, Opa oder anderen Verwandten ging es zum Metzger. Nach dem Bezahlen wurde das ‚Saitenwürschtle‘ (so heißt das ‚Wienerle‘ in Württemberg) ohne Frage oder vegane Bestellalternative über die Theke gereicht. Man wurde anschließend von der Begleitperson mit ernster Stimme aufgefordert: „Und wie sagt man?!“, darauf folgte ein schüchternes „Danke.“, belohnt von wohlwollenden Blicken von Metzgers Frau und deren Kunden – und dann: endlich, der erste Biß…

Klare Choreographie.  Eindeutige Rollen.  Kein Gedöns.

Lecker, waren diese geschenkten, knackigen Würstchen!

Postscriptum

Falls Sie nun ein leichtes Unwohlsein verspüren und einwenden, dass eine solche Form der Erziehung im Grunde genommen stark an die Klassische Konditionierung[1] erinnert, und überhaupt, wo da der freie Wille und so bliebe, möchte ich Sie an dieser Stelle auf ein schönes, neues Angebot der psychotherapeutischen Spielwiese aufmerksam machen: „Danke-Selbsthilfegruppen“. Erwachsene Menschen treffen sich dort wöchentlich, überlegen zusammen, wofür Sie dankbar sein könn(t)en und lernen dann ein ‚Danke‘ laut auszusprechen.

Dabei überlege ich gerade, ob Paul auch eines Tages dort sein wird? (SR)

[1] Information zur Theorie der ‚Klassischen Konditionierung‘ z.B. unter https://lexikon.stangl.eu/3912/klassische-konditionierung abgerufen 05.01.2024

Foto: https://unsplash.com/de/@charlesdeluvio